Tiefe Nacht

Lynceus, der Thürmer
auf der Schloßwarte, singend
11288Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
11290Dem Thurme geschworen
Gefällt mir die Welt.
Ich blick in die Ferne,
Ich seh in der Näh,
Den Mond und die Sterne,
11295Den Wald und das Reh.
So seh ich in allen
Die ewige Zier
Und wie mir’s gefallen
Gefall ich auch mir.
11300Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sey wie es wolle,
Es war doch so schön!
Pause
Nicht allein mich zu ergötzen
11305Bin ich hier so hoch gestellt;
Welch ein gräuliches Entsetzen
Droht mir aus der finstern Welt!
Funkenblicke seh ich sprühen
Durch der Linden Doppelnacht,
11310Immer stärker wühlt ein Glühen
Von der Zugluft angefacht.
Ach! die innre Hütte lodert,
Die bemoost und feucht gestanden,
Schnelle Hülfe wird gefodert,
11315Keine Rettung ist vorhanden.
Ach! die guten alten Leute,
Sonst so sorglich um das Feuer,
Werden sie dem Qualm zur Beute!11318 sie ] 2 V H.1Sie 2 H   (II aa)
Welch ein schrecklich Abentheuer!
11320Flamme flammet, roth in Gluten
Steht das schwarze Moosgestelle;
Retteten sich nur die Guten
Aus der wildentbrandten Hölle!
Züngelnd lichte Blitze steigen
11325Zwischen Blättern, zwischen Zweigen;
Äste dürr, die flackernd brennen,
Glühen schnell und stürzen ein.
Sollt ihr Augen dieß erkennen!
Muß ich so weitsichtig seyn!
11330Das Kapellchen bricht zusammen
Von der Äste Sturz und Last.
Schlängelnd sind, mit spitzen Flammen,
Schon die Gipfel angefaßt.
Bis zur Wurzel glühn die hohlen
11335Stämme, Purpurroth im Glühn. –
Lange Pause, Gesang
Was sich sonst dem Blick empfohlen,
Mit Jahrhunderten ist hin.
Faust
auf dem Balkon, gegen die Dünen
Von oben welch ein singend Wimmern?
Das Wort ist hier, der Ton zu spat,
11340Mein Thürmer jammert; mich, im Innern,
Verdrießt die ungeduldge That.
Doch sey der Lindenwuchs vernichtet
Zu halbverkohlter Stämme Graun,
Ein Luginsland ist bald errichtet,
11345Um ins Unendliche zu schaun.
Da seh ich auch die neue Wohnung,
Die jenes alte Paar umschließt,
Das, im Gefühl großmüthiger Schonung,
Der späten Tage froh genießt.
Mephistopheles und die Dreye
unten
11350Da kommen wir mit vollem Trab,
Verzeiht! es ging nicht gütlich ab.
Wir klopften an, wir pochten an,
Und immer ward nicht aufgethan;
Wir rüttelten, wir pochten fort,
11355Da lag die morsche Thüre dort;
Wir riefen laut und drohten schwer,
Allein wir fanden kein Gehör.
Und wie’s in solchem Fall geschicht,
Sie hörten nicht, sie wollten nicht;
11360Wir aber haben nicht gesäumt
Behende dir sie weggeräumt.
Das Paar hat sich nicht viel gequält
Vor Schrecken fielen sie entseelt.
Ein Fremder, der sich dort versteckt,
11365Und fechten wollte, ward gestreckt.
In wilden Kampfes kurzer Zeit,
Von Kohlen, ringsumher gestreut,
Entflammte Stroh. Nun loderts frey,
Als Scheiterhaufen dieser Drey.
Faust
11370War’t ihr für meine Worte taub!
Tausch wollt ich, wollte keinen Raub.
Dem unbesonnenen wilden Streich
Ihm fluch ich, theilt es unter euch.
Chorus
Das alte Wort, das Wort erschallt:
11375Gehorche willig der Gewalt!
Und bist du kühn, und hältst du Stich,
So wage Haus und Hof und – Dich.
ab
Faust
auf dem Balkon
Die Sterne bergen Blick und Schein,
Das Feuer sinkt und lodert klein;
11380Ein Schauerwindchen fächelts an,
Bringt Rauch und Dunst zu mir heran.
Geboten schnell, zu schnell gethan! –
Was schwebet schattenhaft heran?11383 schattenhaft ] 2 V H.1Schattenhaft 2 H   (II aa)
Mitternacht
Vier graue Weiber treten auf.
Erste
11384Ich heiße der Mangel.
Zweyte
11384Ich heiße die Schuld.
Dritte
11385Ich heiße die Sorge.
Vierte
11385Ich heiße die Noth.
Zu drey
Die Thür ist verschloßen wir können nicht ein,
Drinn wohnet ein Reicher wir mögen nicht ’nein.11387–11388 ’nein. bis Schatten. ] 2 V H.2’nein bis Schatten 2 H   (II a)
Mangel
Da werd ich zum Schatten.
Schuld
Da werd ich zu nicht.
Noth
Man wendet von mir das verwöhnte Gesicht.
Sorge
11390Ihr Schwestern ihr könnt nicht und dürft nicht hinein.
Die Sorge sie schleicht sich durchs Schlüsselloch ein.
Sorge verschwindet.
Mangel
Ihr graue Geschwister entfernt euch von hier.
Schuld
Ganz nah an der Seite verbind ich mich dir.
Noth
Ganz nah an der Ferse begleitet die Noth.
Zu drey
11395Es ziehen die Wolken, es schwinden die Sterne!
Dahinten, dahinten! von ferne von ferne,
Da kommt er der Bruder, da kommt er der – – – – – Tod.
Faust
im Pallast
Vier sah ich kommen, drey nur gehn,
Den Sinn der Rede konnt’ ich nicht verstehn.
11400Es klang so nach als hieß es – Noth
Ein düstres Reimwort folgte – Tod.
Es tönte hohl, gespensterhaft gedämpft.
Noch hab ich mich ins Freye nicht gekämpft.
Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen
11405Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen;
Stünd ich, Natur! vor dir ein Mann allein
Da wär’s der Mühe werth ein Mensch zu seyn.
Das war ich sonst, eh ich’s im Düstern suchte,
Mit Frevelwort mich und die Welt verfluchte.
11410Nun ist die Luft von solchem Spuck so voll
Daß niemand weiß wie er ihn meiden soll.
Wenn auch Ein Tag uns klar vernünftig lacht
In Traumgespinnst verwickelt uns die Nacht;
Wir kehren froh von junger Flur zurück,
11415Ein Vogel krächzt; was krächzt er? Mißgeschick.
Von Aberglauben früh und spat umgarnt:
Es eignet sich, es zeigt sich an, es warnt.
Und so verschüchtert stehen wir allein.
Die Pforte knarrt und niemand kommt herein.
erschüttert
11420Ist jemand hier?
Sorge
11420Die Frage fordert ja!
Faust
Und du wer bist denn du?
Sorge
Bin einmal da.
Faust
Entferne dich!11422 dich! ] (etwas undeutlich) 2 V H.6dich. mglw mit Ansatz zum Ausrufezeichen 2 V H.2 dich 2 H   (II b)
Sorge
Ich bin am rechten Ort.
Faust
Erst ergrimmt, dann besänftigt für sich
Nimm dich in Acht und sprich kein Zauberwort.
Sorge
Würde mich kein Ohr vernehmen
11425Müßt es doch im Herzen dröhnen;
In verwandelter Gestalt
Üb’ ich grimmige Gewalt.
Auf den Pfaden, auf der Welle
Ewig ängstlicher Geselle,
11430Stets gefunden nie gesucht,
So geschmeichelt wie verflucht.
Hast du die Sorge nie gekannt?
Faust
Ich bin nur durch die Welt gerannt.
Ein jed’ Gelüst ergriff ich bey den Haaren,
11435Was nicht genügte ließ ich fahren,
Was mir entwischte lies ich ziehn.
Ich habe nur begehrt und nur vollbracht,
Und abermals gewünscht, und so mit Macht
Mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig;11439 mächtig; ] 2 V H.2 Das Semikolon ist in 2 H nicht mehr zu erkennen; ergänzt nach 2 V H.2.   (VII)
11440Nun aber geht es weise, geht bedächtig.
Der Erdenkreis ist mir genug bekannt.
Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
Thor! wer dorthin die Augen blinzelnd richtet,
Sich über Wolken seines gleichen dichtet;
11445Er stehe fest und sehe hier sich um;
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm,
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen,
Was er erkennt läßt sich ergreifen;
Er wandle so den Erdentag entlang;
11450Wenn Geister spuken geh er seinen Gang,
Im Weiterschreiten find er Quaal und Glück,
Er! unbefriedigt jeden Augenblick.
Sorge
Wen ich einmal mir besitze
Dem ist alle Welt nichts nütze,
11455Ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
Bey vollkommnen äußern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen.
Und er weiß von allen Schätzen
11460Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle,
Sey es Wonne sey es Plage
Schiebt ers zu dem andern Tage,
11465Ist der Zukunft nur gewärtig
Und so wird er niemals fertig.
Faust
Hör auf! so kommst du mir nicht bey!
Ich mag nicht solchen Unsinn hören.
Fahrhin! die schlechte Litaney
11470Sie könnte selbst den klügsten Mann bethören.
Sorge
Soll er gehen, soll er kommen,
Der Entschluß ist ihm genommen;
Auf gebahnten Weges Mitte11473 Weges Mitte ] 2 V H.11Weges-Mitte 2 V H.2 2 H   (II b)
Wankt er tastend halbe Schritte.
11475Er verliert sich immer tiefer,
Siehet alle Dinge schiefer,
Sich und andre lästig drückend,
Athem holend und erstickend;
Nicht erstickt und ohne Leben,
11480Nicht verzweiflend, nicht ergeben.
So ein unaufhaltsam Rollen
Schmerzlich Lassen, widrig Sollen,
Bald Befreyen, bald Erdrücken,11483 Befreyen, bald Erdrücken ] 2 V H.11befreyen, bald Erdrücken : Befreyen, bald Erdrücken G 2 V H.11 befreyen, bald erdrücken 2 V H.2 2 H   (II b)
Halber Schlaf und schlecht Erquicken
11485Heftet ihn an seine Stelle
Und bereitet ihn zur Hölle.
Faust
Unselige Gespenster so behandelt ihr
Das menschliche Geschlecht zu tausendmalen;
Gleichgültige Tage selbst verwandelt ihr
11490In garstigen Wirrwarr netzumstrickter Quaalen.
Dämonen, weiß ich, wird man schwerlich los,
Das geistig-strenge Band ist nicht zu trennen;
Doch deine Macht, o Sorge, schleichend groß,
Ich werde sie nicht anerkennen.
Sorge
11495Erfahre sie, wie ich geschwind
Mich mit Verwünschung von dir wende!
Die Menschen sind im ganzen Leben blind,
Nun Fauste! werde dus am Ende.
sie haucht ihn an.
Faust
erblindet
Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen
11500Allein im Innern leuchtet helles Licht;
Was ich gedacht ich eil es zu vollbringen;
Des Herren Wort es giebt allein Gewicht.
Vom Lager auf ihr Knechte! Mann für Mann!
Laßt glücklich schauen was ich kühn ersann.
11505Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten,
Das Abgesteckte muß sogleich gerathen.
Auf strenges Ordnen, raschen Fleiß,
Erfolgt der allerschönste Preis;
Daß sich das größte Werk vollende
11510Genügt Ein Geist für tausend Hände.